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Mitteilung vom 01. Juli 200919. Juni 2009 – Plenardebatte zur Schuldengrenze

Finanzminister Rainer Wiegard: Leider reichte der gesunde Menschenverstand in der Vergangenheit nicht aus

Vizepräsidentin Ingrid Franzen:
Ich danke der Frau Abgeordneten Anke Spoorendonk. – Für die Landesregierung hat nun Herr Finanzminister Rainer Wiegard das Wort.

Rainer Wiegard, Finanzminister:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Insbesondere der letzte Beitrag bot eine ganze Menge an Stoff für eine ganz neue Diskussion, wenn man sie denn führen wollte. Frau Kollegin Spoorendonk, ich möchte Ihnen zunächst zwei Dinge entgegnen: Die Bremse kommt nicht in die Verfassung, sondern die Grenze kommt in die Verfassung. Die Bremse führt zur Grenze, und diese Grenze steht ab 2020 für uns als Regel fest. Natürlich mag man darüber diskutieren, warum man sich überhaupt so eine Grenze geben muss und ob der gesunde Menschenverstand nicht ausreicht. In der Tat zeigen die letzten 40 Jahre, dass der gesunde Menschenverstand nicht ausgereicht hat und dass wir eine solche generelle Regel brauchen.

(Beifall bei CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man in diesem Zusammenhang diese Sätze sagt, von denen ich in den letzten Wochen mehrere gehört habe, dann haben wir einen Nachholbedarf. Es hieß, die Schuldenbremse treibe uns in den Ruin. Ich glaube, das haben Sie gesagt. Es hieß auch, die Schuldenbremse sei eine Zukunftsbremse. Angesichts dieser Sätze haben wir in der Tat noch einen Diskussionsnachholbedarf zu diesem Sachverhalt.

(Beifall bei der CDU und des Abgeordneten Günter Neugebauer [SPD])

Nicht die Schuldenbremse treibt uns in den Ruin, sondern die Schulden haben uns in den Ruin getrieben. Deshalb müssen wir auf die Bremse treten. Zukunftsbremse ist ein ähnlicher Begriff. Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr haben wir fast 1 Milliarde € an Zinsen aus unserem Haushalt bezahlt, und zwar aus den Einnahmen. Das waren Zinsen, die wir nur für die Vergangenheit gezahlt haben. Ich frage nun: Was ist eigentlich die Zukunftsbremse?

(Beifall bei CDU und FDP)

Ist es eine Zukunftsbremse, wenn wir die Schulden begrenzen? Auf welche Weise soll das geschehen? Jeder mag die Zahlen selbst nachvollziehen, um sich dieses Problems noch einmal zu bemächtigen.

Wir haben seit 1970 für Zinsen mehr Geld ausgegeben, als wir an Schulden aufgenommen haben. Das heißt, jedes Mal, wenn wir zur Sparkasse gegangen sind und einen neuen Kredit aufgenommen haben, dann hat der Sparkassendirektor an der Eingangstür schon gelauert und gesagt: Lasst das man gleich hier, das ist für die Zinsen von gestern. Deshalb haben wir von diesen Schuldenaufnahmen gar nichts gehabt. Deshalb warne ich diejenigen, die schon wieder daran arbeiten zu sagen, wir müssen eine Grenze einführen, die es uns wieder erlaubt, begründungslos oder mit Begründung – das sei mir zunächst einmal egal – neue Schulden zuzulassen. Wir haben schon genug Schulden, wir brauchen keine neuen Schulden.

(Beifall bei der CDU und der Abgeordneten Birgit Herdejürgen [SPD] und Günter Neugebauer [SPD])

Lieber Kollege Hentschel, daher ist dies ein bemerkenswerter Weg, das muss ich Ihnen sagen. Der Weg, den Sie als Regierungspartei, die neun Jahre lang versucht hat, hier zu regieren und es in keinem einzigen Regierungsjahr geschafft hat, einen Jahresabschluss vorzulegen, der den Regeln der Verfassung für einen ordentlichen Haushalt entspricht, gegangen sind, ist bemerkenswert. Im Verlauf der gesamten 90er-Jahre hatten wir in jedem einzelnen Jahr Einnahmen, die über den langfristigen Steuereinnahmen lagen. Die damaligen Regierungen haben nicht nur die Regeleinnahmen ausgegeben, sondern auch das, was darüber hinaus eingenommen wurde. Weil das nicht reichte, wurde auch noch die Neuverschuldung bis zur zulässigen Grenze ausgekostet. Ein Redner hat es vorhin angeführt: Darüber hinaus wurde auch noch nahezu das gesamte Landesvermögen veräußert und ebenfalls verarbeitet.

Meine Damen und Herren, wer nach so kurzer Zeit zu der Erkenntnis kommt, diesem Haus einen Gesetzentwurf für die Änderung der Landesverfassung vorzulegen, in dem steht, es dürften – lassen wir das Regelwerk im Detail beiseite – künftig keine neuen Schulden mehr in Normallagen gemacht werden, der verfolgt einen anerkennenswerten Weg; insbesondere dann, wenn man dabei die Vergangenheit berücksichtigt. Herzlichen Dank also für die Erkenntnis.

(Beifall bei der CDU)
Dabei ist die Grenze, über die viel diskutiert wurde und noch diskutiert wird, ein ganz besonders markanter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die diesem Landtag mehr als eine Wahlperiode lang angehören, wissen, was die erste Frage ist, wenn man als Regierung in seine Fraktion geht. Mir fällt gerade ein, das gilt nicht nur, wenn man in seine Fraktion geht. Es gilt eigentlich für alle, dass die erste Frage ist: Wie viel Spielraum haben wir denn noch? Damit ist – ohne dass jemand überhaupt die Begriffe genannt hätte – die Frage gemeint, wie weit die Neuverschuldung weg von der verfassungsmäßig zulässigen Grenze ist. Das ist in jeder Runde die erste Frage.

Wenn man sich die vergangenen 40 Jahre ansieht, dann muss man nicht nur nach Schleswig-Holstein gucken. Vielmehr kann man auch den Bund und ebenfalls jedes andere Bundesland nehmen. Diese Grenze hat immer eine magische Wirkung gehabt. – Nein, das war nicht immer so. Es gab ein paar Ausnahmen.
Ich fange mit dieser Ausnahme an: Als ich 2005 ins Amt kam, da hatte die Verfassungsgrenze überhaupt keine Wirkung mehr. Sie war nämlich so weit überzogen, und zwar um mehr als das Dreifache, dass es dem Parlament schließlich egal war, ob da noch 100 Millionen € draufkamen oder nicht.

Wenn wir uns aber in einigermaßen erreichbarer Nähe dieser Grenze bewegen, dann hat man – wenn man einen Entwurf mit einer Neuverschuldung oberhalb dieser Grenze angesiedelt hat – in der Tat eine magische Wirkung, indem man sagt, wir müssen jetzt darunter bleiben. Im umgekehrten Fall, wenn sich eine Regierung bemüht, unterhalb dieser Grenze zu bleiben, entsteht umgekehrt genauso die magische Wirkung. Man versucht dann, die eine oder andere Ausgabe irgendwie doch noch unterzubringen, weil es ja zulässig ist.

Deshalb kann es für mich nur eine Grenze geben. Diese lautet bei dem Zustand, in dem sich unser Land befindet: In normalen und konjunkturell guten Zeiten darf man keine neuen Schulden auf die alten Schulden draufpacken. In normalen und guten Zeiten muss man das tun, was uns unsere Großeltern beigebracht haben. Man muss Geld zurücklegen, und zwar nicht so, dass man aus der noch zur Verfügung stehenden Kreditmenge Rücklagen bildet. Das ist zum Teil kritisiert worden. Vielmehr müssen wir aus Haushaltsüberschüssen Rücklagen für die Zeiten bilden, die auch kommen und schlechter sind.
Wir müssen auch Schulden tilgen.

Sie wissen, dass Schleswig-Holstein den Vorschlag für einen Altschuldentilgungsfonds gemacht hat. Danach sollten wir diese Schulden in einem Zeitraum von 50 Jahren, in dem diese Schulden auch entstanden sind, wenn wir die Phase mit einer Bremse hinzuzählen, wieder tilgen. Das ist nicht gelungen.

Hier gibt es nur eine Absichtserklärung, aber ich sage sehr deutlich: Da wir uns in diesem Haus eigentlich darüber einig waren, dass dies der richtige Weg gewesen wäre, bedeutet er natürlich auch das Folgende: Bevor man mit einer Nettotilgung beginnt, muss man erst einmal die Null erreicht haben, sonst geht es nicht. Wer daher keine Null erreichen will, der kann auch nie zu einer Nettotilgung kommen. Das kann nicht funktionieren.

Deshalb müssen wir zunächst einmal feststellen: Die Regel im Grundgesetz gilt. Wenn der Bundespräsident das Gesetz unterschrieben hat und wenn es veröffentlicht ist, dann gilt es, und zwar unabhängig davon, ob der Schleswig-Holsteinische Landtag oder andere Landtage der Auffassung sind, sie müssten dies selbst und in eigener Verantwortung regeln. Darüber kann man sehr wohl reden, dazu gibt es Vorschläge, die ich von Anfang an teile. Wenn wir sagen, wir wollen eine Klage gegen den Ort dieser Vorschrift anstrengen, nämlich das Grundgesetz, dann müssen wir zunächst unsere Hausaufgaben selbst gemacht haben und eine entsprechende Regelung vorgesehen haben.

(Beifall bei der CDU)

Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben, was diese Entscheidung für Schleswig-Holstein bedeutet. Ich habe hin und wieder gehört und gelesen, dass Einzelne ausführen, wir müssten nur unseren Personalhaushalt reduzieren, die Zahl der Stellen kürzen, dann könnten wir das strukturelle Defizit ausgleichen.

Meine Damen und Herren, unabhängig davon, dass wir zwischen Bund und Ländern noch feststellen müssen, was denn die Definition eines strukturellen Defizits ist – das haben wir bisher noch nicht übereinstimmend für alle Länder und den Bund gemacht, sondern wir haben eine eigene -, lag dieses Defizit bis 2008 bei einer Größenordnung von 500 Millionen € bis 600 Millionen €. Es wird in den nächsten Jahren deutlich steigen.

Das strukturelle Defizit wird steigen, weil auf der Einnahmeseite strukturelle Veränderungen vorgenommen werden. Der Bund wird uns demnächst wieder Gesetzentwürfe dazu vorlegen. Von der 1 Milliarde € Mindereinnahmen, die wir im nächsten Jahr haben werden, werden weit über 300 Millionen € auf Steuerrechtsänderungen zurückzuführen sein, die das Verhältnis von Einnamen und Ausgaben strukturell beeinträchtigen. Insofern werden wir dann über eine größere Summe strukturellen Defizits reden. Das beinhaltet auch die Frage, ob wir künftig dem Bundesfinanzminister folgen, wenn er Vorschläge macht, die erheblichen Einfluss auf unsere Einnahmen haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das bedeutet allerdings auch, dass wir wirklich zur Kenntnis nehmen müssen, dass es nicht ausreicht, an der Zahl der Stellen zu drehen, um damit den Haushalt strukturell ausgeglichen zu gestalten.

Ich bitte, die vier Grundrechenarten anzuwenden: Bei 600 Millionen € strukturellen Defizits – wenn ich die alte Zahl nehme ‑, hieße das, 12.000 Stellen abzubauen. Wir haben in der Verwaltung nur 8.000 Stellen. Wir müssten also eineinhalbmal so viele Stellen streichen wie wir haben.

Deshalb bitte ich, mit großer Sorgfalt darüber nachzudenken und – auch was die öffentliche Wirkung anbelangt – deutlich zu machen: Wir werden mehr tun müssen, als „nur“ 5.000 Stellen abzubauen. Wir werden auch in unsere gesetzlichen und nicht gesetzlichen Leistungen und Verpflichtungen hineinschauen müssen und schauen, welche wir auf dem Weg bis 2020 noch finanzieren können.

Wir müssen sehr viel intensiver als in den letzten 20 Jahren Wert darauf legen und daran arbeiten, die eigene Leistungsfähigkeit, die Wirtschaftskraft des Landes Schleswig-Holstein positiv zu beeinflussen und einen Pfad zu mehr Wachstum zu eröffnen. Ohne Wachstum wird dies alles nicht gelingen.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb ist es notwendig, die eigenen Anstrengungen zur Unterstützung und zum Ausbau der Infrastruktur deutlich zu verstärken und zu verbessern.
Wir haben in den beiden Haushaltsjahren 2009 und 2010 für Investitionen 800 Millionen € mehr vorgesehen als in den beiden Haushalten 2005 und 2006. Sie können daran erkennen, wie wichtig diese Aufgabe sein wird.

Meine Damen und Herren, das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was wir in den nächsten Wochen miteinander zu erörtern haben. Ich sage noch einmal: Die Regel im Grundgesetz gilt, so lange das Bundesverfassungsgericht sie nicht aufgehoben hat. Wir tun gut daran, möglichst schnell unsere Schularbeiten zu machen und dies auch für Schleswig-Holstein umzusetzen. Auf welchem Wege dies geschieht, ist zweitrangig, wenn man sich zuerst einmal über die Sache verständigt hat. Dann können wir den Weg auch gemeinsam miteinander gehen.

(Beifall bei CDU, SPD, FDP und SSW)
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